Das Unaussprechbare sichtbar machen – oder „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zaunes schaute“ auf der Hinterbühne des Stadttheaters Lindau
Ein Stück, das mehr ist als Theater!
Als sich die 9. Klassen und das Ensemble des Mittelstufentheaters am vergangenen Mittwoch auf den Weg ins Stadttheater machten, ahnte wohl kaum einer, was ihn da erwarten würde. Denn hinter dem so kindlich naiv anmutenden Titel verbarg sich ein Theatererlebnis, das es in sich hatte.
Zum Hintergrund. Die Nationalsozialisten hatten sich zur Erholung und Unterhaltung ihrer Familien neben dem KZ Buchenwald einen Zoo angelegt. Dieser ist heute wieder freigelegt worden. Jens Raschke hat ein grandioses Stück geschaffen, in dem er die Tiere dieses Zoos in den Mittelpunkt stellt. Martin Brachvogel hat diese Parabel über das kollektive Wegsehen inszeniert.
Eine Pavianfamilie, ein Mufflonpaar, ein Murmeltiermädchen und zwei Eichhörnchen leben ihr eigenes, recht beschauliches Leben und nehmen die für sie merkwürdigen Dinge, die auf der anderen Seite des Zauns passieren, zwar wahr, hinterfragen sie aber nicht. Den Kindern der „Gestiefelten“, also der Wachhabenden des KZ‚s, bieten sie an jedem Wochenende ihre lustige Show. Das Schicksal der „Gestreiften“, der Häftlinge in ihren schäbigen, zebragleichen Anzügen, begreifen sie nicht, ebensowenig wie die Ursache des schrecklichen Gestanks, der aus dem großen Schornstein kommt.
Als eines Tages das Nashorn tot im Gehege liegt, beginnen sie zu ahnen, dass in dieser anderen Welt nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Der nachdenkliche Bär, der anstelle des Nashorns in den Zoo kommt, stellt den tierischen Mitbewohnern viele Fragen. Eines Tages will er der Sache auf den Grund gehen und wird zum Helden der Geschichte. Er krabbelt mühsam den riesigen Schornstein hoch, lässt sich in dessen Schlund fallen und bringt den Kamin so zum Bersten. Der Bär leistet aktiven Widerstand gegen die Greuel und das unsägliche Unheil, das die Nazis auf die Welt gebracht haben: Er wird zum Märtyrer der Geschichte.
Viele Requisiten braucht dieses wunderbar sensible und ehrliche Stück nicht, denn es lebt von der hohen Spiel- und Sprechkunst der vier Schauspieler Nadja Brachvogel, Daniel Doujenis, Stefan Maaß und Rudi Widerhofer.
Minutenlanger Applaus belohnte am Ende das fesselnde Spiel der Darsteller.
Bildquellen:
- Beitragsbild: Peter Manninger
- Bild unten: Anja Köhler