Klappentext
Für Jack ist Raum die ganze Welt. Dort essen, spielen und schlafen er und seine Ma. Jack liebt es fernzusehen, denn da sieht er seine »Freunde«, die Cartoonfiguren. Aber er weiß, dass die Dinge hinter der Mattscheibe nicht echt sind – echt sind nur Ma, er und die Dinge in Raum. Bis der Tag kommt, an dem Ma ihm erklärt, dass es noch eine Welt da draußen gibt und dass sie versuchen müssen, aus Raum zu fliehen …
Die Welt, die nicht existiert (Spoiler!!)
Außergewöhnlich – das ist das erste Wort, das ich mit dem Roman Raum assoziiere. Die Autorin Emma Donoghue erzählt hier das Leben eines fünfjährigen Jungen, mit Namen Jack, und dessen Mutter. Die mittlerweile Sechsundzwanzigjährige wurde als Studentin entführt und lebt nun seit sieben Jahren in „Raum”, in dem sie regelmäßig von ihrem Peiniger vergewaltigt wird und ihrem Sohn Jack das Leben schenkte. Wobei das Leben in diesem von der Außenwelt vollkommen isolierten Raum wohl kaum als Geschenk gesehen werden kann. Zumindest nicht, wenn man es, wie wir Leser, gewohnt ist, mit anderen Menschen zusammenzuleben, und Pflanzen und Tiere in unserer Umgebung bei weitem keine Besonderheiten sind. Aber was, wenn man in einem solchen Loch geboren wurde und niemanden kennt, außer der eigenen Mutter, die einen regelmäßig stillt? Man nichts kennt, außer den Möbeln, mit denen man sich den Raum teilt und die für einen den Stellenwert eines echten Menschen haben? Nichts kennt, außer halb vertrockneten Pflanzen und Tieren, die dem Tod näher stehen als dem Leben? Und einem als einzigem Kontakt zur Außenwelt ein alter Fernseher dient, man allerdings so fern der Realität, dem „Dadraußen” lebt, dass man denkt, die Fernsehprogramme wären auf anderen Planeten gedreht? So ist Jack beispielsweise viele Jahre lang der Meinung, seine geliebten Arztserien würden auf einem „Artzplaneten” ihren Ursprung haben, da Kliniken und Krankenhäuser in seiner beschränkten Welt nicht existent sind. Die Geschichte von Jack und seiner Mutter bietet viele zermürbende und herzzerreißende Momente, besonders als es ihnen gelingt, die Flucht zu ergreifen und in ein neues Leben zu starten, wo es allerdings mehr Hürden zu überwinden gilt, als durch die anfängliche Euphorie vermutet. Besonders gut ist Donoghue hier, meiner Meinung nach, die Konfrontation der Isolierten mit ihrer Außenwelt und insbesondere deren Verwandten gelungen. Denn auch hinter der Familie liegen sieben Jahre der Ungewissheit und des Schmerzes wegen des Verlustes der geliebten Tochter. Zudem bringen die Jahre der Trennung und der verschiedenen Lebensweisen eine unüberbrückbare Entfremdung mit sich. Auch der Leser ist hin- und hergerissen zwischen Wut, Trauer und Empathie zu den Figuren und deren teils auch kontroversen Standpunkten das Geschehene betreffend. So ist hier beispielsweise besonders auffällig, dass die gesamte Geschichte mit den Augen Jacks gesehen und in dessen Sprache wiedergegeben wird. Dies ermöglicht es dem Leser, in die naive Sichtweise eines Fünfjährigen einzutauchen, sich mit ihm zu identifizieren und mit ihm diese neue, große, rätselhafte Welt zu entdecken. Ein weiterer Punkt, der dieses Buch zu etwas ganz Besonderem macht, ist die Tatsache, dass diese unglaublich anmutende Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruht, Raum wurde nämlich in Anlehnung an den Fall „Fritzl” verfasst. Besagter Josef Fritzl hielt seine Tochter 24 Jahre in einer unterirdischen Wohnung gefangen und zeugte sieben Kinder mit ihr. Eine Flucht aus diesem Albtraum gelang erst im Jahre 2008, als eines der drei Kinder, die mit in dem Verlies wohnten, erkrankte, in ein Krankenhaus kam und man dort auf Ungereimtheiten in Bezug auf seine Identität stieß.
Als Fazit bleibt mir nur zu sagen, dass Raum ein definitiv lesenswertes Buch ist, weil es einem eine neue Sichtweise auf die Welt ermöglicht und einem, an der ein oder andere Stelle, das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Anna Modemann
Ein Buch wie kein zweites (Spoiler!!)
Raum ist ein prägendes Buch. Es öffnet Türen zu Sichtweisen, die man sonst nie über das alltägliche Leben hätte. Zum Beispiel fragt man sich normalerweise nicht, wie jemand, der in Gefangenschaft aufgewachsen ist, Draußen und Drinnen definieren würde. Für Jack, den fünfjährigen Protagonisten des Buches, ist Drinnen der Raum, in dem er mit seiner Mutter lebt. Das Draußen stellt er sich anfangs als Universum vor, in dem sich viele verschiedene Planeten befinden. Auf einem Planeten wohnt z. B. seine „Freundin” Dora (die Dora aus der Zeichentrick-Kindersendung). Das kommt daher, dass Jack seine einzigen Einblicke über die Außenwelt nur durch den im Raum stehenden Fernseher gewinnt.
In Jack-Sprache hieße das: „Fernseher steht in Raum”, da er die Dinge als Subjekt sieht. Nur die Dingen, von denen die beiden mehrere besitzen, bekommen Artikel zugeschrieben. Was also auf den ersten Blick nach einer Kindersprache aussieht, ist die Folge seiner Gefangenschaft.
Jacks Mutter wurde mit 19 Jahren von einem Mann, den die beiden nur als „Old Nick” bezeichnen, von der Straße gekidnappt und bekam nach zwei Jahren Gefangenschaft und einer Fehlgeburt Jack „geschenkt”. Als dieser fünf wird, beschließt sie zu fliehen und heckt einen Plan aus, wie die beiden in Freiheit gelangen können. Der Plan glückt weitestgehend, doch müssen die beiden im Draußen, das gar nicht Jacks anfänglichen Vorstellungen entspricht, unter klinischer Beobachtung leben und mit der auflauernden Presse und familiären Veränderungen zurechtkommen.
Zudem gibt es für Jack plötzlich unendlich viele neue Situationen, wie z. B. Treppensteigen, sodass er sich manchmal in Raum, sein vertrautes Zuhause, zurücksehnt.
Das Buch ist so aufgebaut, dass man auf den ersten 100 Seiten nur das Leben in Raum beschrieben bekommt, was eine extreme Nähe zu den beiden erzeugt und man sich in ihre Lage hineinversetzen kann. Danach folgt die Flucht, die durch die spannende Darstellung zum Mitfiebern anregt. Zuletzt kommen die Hürden der beiden nach der Befreiung, was einen sowohl schmunzeln als auch mitfühlen oder vielleicht mal mit Unverständnis zurücklässt. Ein Buch wie kein zweites.
Denise Meyer
Spoiler!!
Ein spannendes Thema, das aus einer interessanten Perspektive erzählt wird. Donoghue richtet den Blick weniger auf die Flucht an sich, sondern eher auf die langfristigen Folgen. Die betroffene Person dabei als Erzähler auftreten zu lassen ist zweifellos eine geniale Idee. Die Autorin schafft es, auch mit der kindlichen Sprache die Misshandlungen auszudrücken, ohne sie direkt auszusprechen. Dadurch wirkt die Geschichte sehr realitätsnah und sehr bedrückend. Dies erklärt, warum die Flucht gelingen musste; ansonsten wäre die Geschichte wohl zu hoffnungslos für den Leser gewesen, als dass er sie zu Ende lesen würde. Die Zeit nach der Flucht zeigt glaubwürdig auf, wie sich Jack und seine Mutter langsam an das normale Leben herantasten müssen. Der Selbstmordversuch von „Ma“ ist schlüssig, passt aber erzählerisch nicht gut. Der Roman wirkt dadurch dramatisch aufgebauscht. Das offene Ende lässt den Leser einerseits über die weitere Entwicklung im Unklaren, andererseits scheint an diesem Zeitpunkt das Gröbste überstanden zu sein. Das Ende driftet deshalb in Richtung eines Happy-Ends. Eine sichere Wahl, die gut im Kontrast zur beklemmenden Exposition steht. Die Perspektive ist zweifellos interessant, die Sprache allerdings sehr umständlich und gewöhnungsbedürftig. Dies hemmt vor allem am Anfang den Lesefluss sehr stark und ist ein großer Kritikpunkt an Raum.
Yannick Wyss
Meine Bewertung: 9 von 10 Punkten. Warum? Eine Geschichte aus der Sicht eines Kindes zu schreiben, das in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Raum gesehen hat und nichts von der Existenz der umliegenden Welt ahnt, ist sehr gewagt und dennoch mit Raum gut gelungen. Die kindliche Sprache des fünfjährigen Ich-Erzählers, die sich konsequent durch das ganze Buch zieht, ist ungewohnt, aber das gefällt mir. Außerdem versteht man dadurch Jack, den Erzähler, paradoxerweise viel besser. Den einen Punkt Abzug gibt es, da sich die Geschichte an einigen Stellen doch etwas in die Länge zieht und weil ich mir vom Ende mehr versprochen hätte.
Felix Augustin